Ist Deutschland bereits ein „failed state“?

Quelle: Wikimedia CC 3.0, ChrisO

Offene Grenzen, steigende Kriminalität, Verlust von ganzen Stadtteilen. Ist es, besonders angesichts des staatlichen Totalversagens im Sommer 2015, legitim, von Deutschland als einem „failed state“ zu sprechen? 

Von Jan Ackermeier

„Wenn ein Staat darauf verzichtet, seine Grenzen zu kontrollieren, ist er wissenschaftlich gesehen ein ‚failed state‘, ein gescheiterter Staat, wie Deutschland. Wenn zwischen September und Dezember 2015 Hunderttausende bis zu einer Million Zuwanderer nach Deutschland eingereist sind, ohne dass man weiß, woher diese Menschen kommen, und die Regierung das auch noch zugibt, dann muss man von einem gescheiterten Staat sprechen“, so äußerte sich vor kurzem der bekannte Nahost-Spezialist und Professor für internationale Beziehungen Bassam Tibi (72) in einem Interview gegenüber der „Preussischen Allgemeinen Zeitung“. Ist das ein zu hartes Urteil? Weiß der Mann überhaupt wovon er spricht? Die Antwort muss eindeutig in einem Fall Jein und im anderen Fall Ja lauten.

Was ist ein gescheiterter Staat?

Was die Definition des gescheiterten Staates angeht, so muss man Tibi etwas korrigieren: Man kann erst vom Scheitern sprechen, wenn die organisatorischen Strukturen der Staatsgewalt (Regierung, Behörden, staatliche Einrichtungen) weitgehend zerfallen sind und der Staat strukturell unregierbar geworden ist. Davon sind die mitteleuropäischen Staaten noch einige Schritte entfernt – wenn auch in gewissen Gebieten sich bereits eine Parallelstaatsgewalt entwickeln konnte.

Stattdessen lassen gewisse Vorgänge der jüngeren Zeit eher den Schluss zu, dass sich Deutschland und einige andere europäische Staaten derzeit „nur“ zu „schwachen Staaten“ wandeln. Kennzeichen dafür sind vor allem strukturelle Defizite wie etwa das mangelhafte Grenzregime, die teilweise Aufgabe der Staatsgewalt vor allem gegenüber Zuwanderern – gegenüber der eigenen Bevölkerung funktioniert die Staatsgewalt hingegen immer noch gut – und der Unwille oder die Unfähigkeit an diesen Verhältnissen etwas zu verändern. Die Diagnose von Tibi ist also nur begrifflich zu korrigieren, nicht aber in der Zielsetzung der Aussage: Der traditionelle mitteleuropäische Nationalstaat hat in vielen Politikfeldern – aus den verschiedensten Gründen – seine Handlungsfähigkeit eingebüßt. Die Gefahr, dass aus dieser geschwächten Position eine Position des Scheiterns wird, ist immerhin real, solange nicht der politische Wille besteht, diese Entwicklung aufzuhalten.

Moderne Hexenprozesse

Gleichzeitig beklagte Tibi, dass in Deutschland „eine sachliche Debatte hierüber durch Gesinnungsterror“ verhindert werde. Diese Erfahrung können Kritiker der derzeitigen Verhältnisse immer wieder machen und Tibi ist hier nicht allein. Die „harmlosesten“ Bezeichnungen, die Nonkonformisten sich anhören dürfen, sind noch die des „Hetzers“ oder des „Ausländerfeindes“. Eine Sachdebatte über Sinn oder Unsinn von Ein- und Zuwanderung findet tatsächlich nicht mehr statt.

Dabei wäre eine Versachlichung der Debatte dringend notwendig. Man fühlt sich aber ganz im Gegenteil an die Zeit der Hexenprozesse erinnert. Über vermeintliche Glaubensinhalte wird nicht diskutiert und man landet schnell auf dem – heute eher sozialen, denn realen – Scheiterhaufen. Kritiker wie der syrische Professor Tibi und auch andere Stimmen, die eine sachliche Debatte fordern, sind da für die modernen Inquisitoren unbequem und unerwünscht. Es ist aber davon auszugehen, dass auch die moderne Inquisition – ebenso wie ihr historisches Vorbild – an ihren inneren Widersprüchen scheitern wird. Ob dies noch geschieht, bevor Politikwissenschaftler die Diagnose stellen müssen, dass in Europa inzwischen mehrere „failed states“ existieren, ist eine wichtige Voraussetzung für die Umkehr zur Handlungsfähigkeit.

Weitere Artikel …