Der Wiener Kurdistan-Experte Herbert Fritz war an der IS-Front (2)

Info-DIREKT bringt heute den zweiten Teil des Beitrages des Wiener Kurdistan-Experten Herbert Fritz, der mehrfach in teils extrem wagemutigen Einsätzen die IS-Front im irakischen und syrischen Teil Kurdistans besucht hat und von dort aus erster Hand berichtet. Im Anhang zu diesem Beitrag findet sich eine weitere Serie von Bildern von der IS-Front, die Dr. Herbert Fritz Info-DIREKT zur exklusiven Veröffentlichung überlassen hat.

Dr_Herbert_Fritz

Herbert Fritz, Fachbuch-Autor und -Herausgeber, ist durch zahlreiche Publikationen zur Kurdenfrage hervorgetreten. Sein Buch Die kurdische Tragödie: Ein Volk zwischen den Fronten (2004) gilt als Klassiker. Demnächst erscheint ein weiteres Buch über die jüngsten Reisen des Autors an die IS-Front, das auch über seine persönlichen Gespräche mit Konfliktbeteiligten berichten wird. Ein weiterer höchst aktueller Augenzeugenbericht ist auf seiner Heimseite abrufbar: Der Islamische Staat und die Kurden (2014).

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Der „Islamische Staat“, Bedrohung und Chance für die Kurden

Von Herbert Fritz

Am kurdischen „Westwall“ bei Kirkuk

Am 26. März 2015 befand ich mich wieder im Frontgebiet westlich von Kirkuk.

Ich war im Sammeltaxi von Erbil gekommen. Hinter war saßen noch drei Fahrgäste. Einer dieser drei, der sich als Elias vorstellte, begann zu erzählen:

„Am 17. Juli hatte uns unser Kirchenoberhaupt empfohlen, wir sollten Mosul schleunigst verlassen, da wir als Christen nach der Einnahme der Stadt durch den ISIS nicht mehr sicher seien. Wir beschlossen, dieser Empfehlung Folge zu leisten, packten die wichtigsten Sachen in unseren Wagen und fuhren, wie viele andere unserer christlichen Mitbürger am nächsten Tag los. Mehrmals wurden wir von den Daasch angehalten. Sie raubten unseren Schmuck und das gesamte Bargeld. Dabei hatten wir noch Glück, dass sie uns wenigstens das Auto ließen. Wie wir später erfuhren, nahmen sie nur neue und teure Fahrzeuge. Unseres war ihnen offensichtlich zu alt.“

Elias sprach fast ununterbrochen. Er erzählte von seiner Schwester, in deren Haus die Daasch jesidische Mädchen gebracht und gefangen gehalten hätten. Sie wüsste aber nicht, was aus den Mädchen geworden war, da sie, so wie er selbst Mosul verlassen hatte und nach Qamishli gefahren sei. Danach sei seine ganze Familie nach Erbil weiter gezogen. Hier fühle er sich sicher. Mit den Arabern hätte es immer wieder Probleme gegeben, obwohl die Baath-Regierung nicht christenfeindlich gewesen sei. Auf dem Weg nach Kirkuk wurden wir an den Kontrollposten einige Male kontrolliert, wobei die Beamten nicht nur unsere Ausweise bzw. Reisepässe ansahen, sondern auch den Zweck unserer Reise wissen wollten. Die Stadt gilt als äußerst unsicher. Das Hauptquartier der KDP in Kirkuk befindet sich am nördlichen Stadtrand, ungefähr einen Kilometer nach der Ortstafel und gleicht eher einer schwer bewachten Festung denn einer Parteizentrale. Tatsächlich werden dort auch die militärischen Einsätze die der DPK zugehörigen Pesch Merga im Raume Kirkuk organisiert.

Bei meinem letzten Besuch im Herbst 2014 hatte sich die Verteidigungslinie der Kurden etwa 20 Kilometer westlich von Kirkuk entlang des Maschru-Kanals befunden, die innerhalb weniger Tage nach der Inbesitznahme des erdölreichen Gebietes von den Pesch Merga angelegt worden war. Im Laufe der folgenden sechs Monate war es zu mehreren Zwischenfällen und schweren Zusammenstößen mit dem IS gekommen.

So hatte am Mittwoch, den 19. November ein Selbstmordattentäter versucht, offensichtlich aus Rache für die Unterstützung der syrischen Kurden im Kampf um Kobane, mit einem mit Sprengstoff beladenen Fahrzeug auf das Gelände des Regierungssitzes zu gelangen. An der Einfahrt des von hohen Schutzmauern umgebenen Grundstücks habe er, wie Bürgermeister Nihad Latif Koja berichtete, den Sprengsatz gezündet. Dabei starben zwei Polizisten und zwei Zivilisten.

Kirkuk Ceyhan

Ende Jänner 2015 scheiterte ein Überraschungsangriff des IS auf Kirkuk, danach konnten die Dschihadisten die kurdischen Verteidigungsstellungen überrennen. Erst nach dreitägigen schweren Gefechten war es den kurdischen Kämpfer, unterstützt von der US-Luftwaffe, gelungen, den IS wieder zurückdrängen und die bedrohten Erdölfelder zu sichern, wobei u.a. sieben Pesch Merga-Kommandanten den Tod gefunden hatten. Dr. Kamal Kirkuki, ein führender Politiker der DPK, der in Heidelberg und Wien studiert hatte, gab mir einen Überblick über die aktuelle militärische Lage und zeigte mir anhand einer Generalstabskarte die Gebietsgewinne, die die Pesch Merga in einem Nachtangriff vom 9. auf den 10. März erzielen konnten. Anschließend führte mich sein Bruder zu den neuen Stellungen, die sich einige Kilometer westlich von jenen befanden, die ich vor einem halben Jahr besichtigt hatte.

Am Abend ging es zurück nach Erbil, von wo ich meine Weiterreise ins Sindschar (Shingal)-Gebirge antreten wollte. In jenes Gebirge, das durch die Verbrechen der Dschihadisten an den Jesiden und durch das beherzte Eingreifen der PKK zur Rettung von mindestens 30.000 der Eingeschlossenen den Weg in die Schlagzeilen der Weltpresse gefunden hatte.

Die Jesiden, die vor den tragischen Ereignissen vom August 2014 überwiegend im Lager der DPK gestanden hatten, gaben danach eher der PKK den Vorzug, was zur Entstehung mehrerer PKK-naher Organisationen geführt hatte. Die interessanteste ist zweifellos die Mitte Februar gegründete weibliche Selbstverteidigungseinheit (YPJ-Sengal), die sich, wie schon aus ihrer Bezeichnung hervorgeht, als Teil der Kämpferinnen Rojavas empfindet. Mit Zerdest Derwes, meinem Dolmetscher und Führer, besuchte ich das Hauptquartier der wehrhaften Damen. An der Wand hing ein Foto Abdullah Öcalans und eines von Lalisch, dem heiligsten Ort der Jesiden.

Heval Raperin, die Chefin der Gruppe gab uns einen euphorischen Bericht über die Aufgaben und Tätigkeiten ihrer Gruppe, aber auch über die Probleme, die in der mangelnden Entscheidungsfreudigkeit der Jesiden wurzeln.

„Jeder Beitritt einer Frau gleicht einer Revolution und wir verfügen bereits über mehr als 40 Mitglieder. In keinem Bereich der Gesellschaft spielten die jesidischen Frauen bisher eine Rolle. Dass 6.000 von ihnen ohne Gegenwehr in die Gefangenschaft der Daasch geraten waren, beweist, wie wichtig der Aufbau der Frauenbewegung ist, in der ihnen Selbstbewusstsein und Bildung vermittelt wird. Die jungen Frauen werden ideologisch geschult, betreiben Sport und erhalten eine militärische Ausbildung. Wir lehren die Frauen selbstbestimmt zu leben. Familien kommen und bringen ihre Töchter. Es gibt aber auch Frauen, die ihren Töchtern verbieten, zu uns zu kommen. Manche dieser jungen Menschen setzen sich aber über die mütterlichen Verbote hinweg. Wenn sie volljährig sind nehmen wir sie natürlich auf.“

Unser nächster Besuch galt dem „Rat der Jesiden“, der sich als überparteilicher Verein versteht. Trotzdem hatte er sich an Öcalan und seiner Philosophie orientiert. Said Hassan, der Präsident des Rates, wies auf zwei wesentliche Punkte hin, die sowohl für Jesiden als auch für die PKK von Bedeutung sind: Frauen und die Natur.

„Die Frauen haben auch bei uns, so wie bei der PKK, alle Rechte. Unser Vorstand besteht aus zehn Frauen und siebzehn Männern, und die Natur spielte bei uns immer eine wichtige Rolle“.

Der Rat wurde am 14. Jänner 2015 gegründet und tritt für die Rechte der Jesiden ein. Er versucht, auf allen Ebenen und in allen Bereichen zu helfen. So wurden in jedem Flüchtlingscamp Schulen eingerichtet, die die Namen von jesidischen Märtyrern erhielten. Die Lehrerausbildung erfolgt in Rojava.

„Wir sorgen uns aber auch um den mentalen Zustand unserer Menschen. Wir kümmern uns um die Strom- und Wasserversorgung, und pflegen diplomatische Beziehungen zu Cezire, kümmern uns um das Gesundheitswesen, organisieren die Verwaltung und Reinigung der Camps und betreiben politische Aufklärungsarbeit. Hilfsorganisationen aus Rojava unterstützen uns im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Wir gehen in den Lagern von Zelt zu Zelt und werben für den Schulbesuch. Immer wieder rufen wir zur Rückkehr in die befreiten Heimatdörfer auf“.

Rojava_cities

Während die Gebiete nördlich des Gebirges und das Gebirge selbst komplett befreit, das heißt in der Hand der Kurden sind, beherrschen die kurdischen Kämpfer erst ein Drittel der südlich gelegenen Stadt gleichen Namens, die restlichen zwei Drittel stehen noch unter Kontrolle des IS. Die Lage ist angespannt. Auch wenn derzeit keine großen Kämpfe stattfinden, fallen immer wieder Schüsse. Scharfschützen liegen auf der Lauer und schießen auf alles, was sich bewegt und in ihr Visier gerät. Wir besuchen mehrere Stellungen, wobei in der Stadt die HPG, das sind die Kämpfer der PKK, bei weitem in der Überzahl sind. Auf einem Hügel grenzt der Stützpunkt der HPG unmittelbar an den der Pesch Merga der DPK, verbunden durch einen Graben. Die Kommandanten verstehen sich offensichtlich gut. Es ist ein Novum in der Geschichte der beiden Parteien, dass ihre Krieger nicht gegeneinander, wie leider oft in der Vergangenheit, kämpfen, sondern erstmals Seite an Seite. Allerdings halten sich die Pesch Merga an ihr Versprechen, die schweren Waffen, die sie von westlichen Staaten erhalten hatten, nicht weiter zu geben. Sie verhalten sich absolut vertragstreu. Die vordersten kurdischen Linien sind nur ca. 40 Meter von den Daasch entfernt, die Häuser zum größten Teil beschädigt, an manchen Löchern an den Außenwänden sind Rückspiegeln angebracht, um den Gegner sehen zu können, ohne den Kopf hinaus stecken zu müssen. Diese Stellungen werden von HPG-Kämpfern und einigen Pesch Merga gehalten. Übereinstimmend sagen die HPG-Kommandanten, dass sie auf Verstärkung warten, um die Stadt komplett zu erobern. Am Abend wirft ein Flugzeug noch eine Bombe auf den besetzten Stadtteil.

Am nächsten Morgen treffe ich noch Zeki Sengali, Mitglied des Exekutivrates der KCK und zweifellos die wichtigste politische jesidische Persönlichkeit in Sengal/Sindschar, der mir die Kontakte an Ort und Stelle ermöglicht hatte und nun meinen Rücktransport an die Grenze organisierte.

Heldenstadt Kobane

„Nicht nur werden die Sowjets sich weigern, unserem geliebten, heldenhaften Warschau zu helfen, sondern sie werden mit der größten Freude zuschauen, wie das Blut unserer Nation bis zum letzten Tropfen versickern wird“. Damals stand die Rote Armee am östlichen Ufer der Weichsel und wartete seelenruhig, bis die Deutsche Wehrmacht den polnischen Widerstand gebrochen hatte.

Dieser Satz des polnischen Generals Wladyslaw Ander, der 1944 den Aufstand gegen die deutsche Wehrmacht anführte, kam mir in den Sinn, als ich am 30. September 2014 auf der türkischen Seite der schwer bewachten Grenze zu Syrien stand. Am 15. September hatte die Schlacht um Kobane ihren Höhepunkt erreicht, große Teile der Stadt waren schon in die Hände der vorzüglich ausgerüsteten Kämpfer des IS gefallen und es schien nur mehr eine Frage von wenigen Tagen zu sein, bis der kurdische Widerstand zusammenbrechen würde.

Ain_al-Arab_am_13_September_2014

Ankara hatte nachweislich den IS unterstützt, den schwer bedrängten Verteidigern aber jede Hilfe verweigert. Eine Reihe von Fernsehanstalten lauerte bereits mit ihren Übertragungs-fahrzeugen, um über den, wie sie glaubten, bevorstehenden Fall von Kobane sofort berichten zu können. Sie glichen Aasgeiern, die nur auf den Tod ihrer Opfer warteten. Am 9. 10. 2014 ließ Spiegel ONLINE die Totenglocken für Kobane läuten: „Tausende Flüchtlinge aus Kobane harren auf den Hügeln auf der türkischen Seite der Grenze aus, um die Gefechte in Syrien zu beobachten. Sie wissen: Ihre Heimat ist verloren“.

Tatsächlich mussten die Aasgeier ohne die erwartete Beute wieder abreisen.

Nachdem sich die US-Amerikaner und ihre arabischen Verbündeten zu Luftangriffen gegen die hochgerüsteten IS-Terroristen entschlossen hatten, musste die Türkei Ende Oktober unter dem Druck der USA eine erste Gruppe von 150 Pesch Merga-Kämpfern über ihr Staatsgebiet nach Kobane einreisen lassen. Ein Tropfen auf den heißen Stein. Trotzdem ein wichtiger Tropfen, hatten doch die irakischen Kurden, im Gegensatz zu den eher ärmlich ausgerüsteten Kämpfern der syrischen und türkischen Kurden modernes Kriegsmaterial.

In schweren Kämpfen, die aus der Stadt eine Ruinenlandschaft gemacht hatte, gelang es den kurdischen Streitkräften, die Dschihadisten des IS zurückzudrängen. Am 26. Jänner 2015 konnten sie melden: Kobane ist frei.

Da es mir im vergangenen Herbst aus Zeitmangel nicht gelungen war, Kobane zu besuchen, wollte ich es jetzt, im Frühjahr 2015, nachholen. Ausgestattet mit dem Namen einer Kontaktperson in Kobane – ich nenne sie hier Fatima – und ihrer Telefonnummer begab ich mich am 2. April 2015 nach Suruc, einer türkischen Kleinstadt, wo ich die Nachricht erhielt, dass die Türken nur in seltenen Fällen die Einreisegenehmigung für Kobane erteilten. Ich musste daher versuchen, illegal über die Grenze zu gelangen.

Einem Anruf folgte ein Treffen mit zwei Herren und am Abend saß ich bereits mit neun anderen Männern dicht gedrängt in einem Minibus. Die Fahrt ging nach Westen und soweit ich das in der Dunkelheit beurteilen konnte, parallel zur syrischen Grenze. Nach etwa einer Stunde hieß es aussteigen, ein ortskundiger Führer, der uns schon erwartet hatte, gab uns nach einer kurzen Begrüßung Verhaltensregeln: „Gehen sie genau hinter mir, damit sie nicht auf eine Mine treten oder sich im Stacheldraht verfangen. Wenn ich in Deckung gehe, tun Sie das auch und wenn ich laufe, laufen Sie auch. An manchen Stellen müssen wir in gebückter Haltung laufen, damit wir von den Scheinwerfern der türkischen Grenzpolizisten nicht erfasst werden.“ – Er hatte nicht zu viel versprochen. Bergauf im Laufschritt ließ mich nach Luft ringen, zudem hatte ich mir noch den Fuß verstaucht. Das letzte Stück vor der Grenze stützten mich zwei junge Kurden. Gegen 22 Uhr hatten wir es geschafft. Nach zwanzig weiteren Minuten auf der syrischen Seite erreichten wir den ersten militärischen Stützpunkt, von wo wir mit Autos nach Kobane gebracht wurden. Fatima, meine Kontaktperson hatte mich bereits im PYD-Quartier erwartet.

Am nächsten Morgen ließ ein erster Rundgang durch die Stadt die schweren Kämpfe erahnen, die hier stattgefunden hatten. Fatima, schätzte, dass mindestens 70 Prozent der Stadt zerstört wurden, 40 Prozent komplett, vor allem im südöstlichen Teil. „Wir verlassen nie die geräumten Straßen, da noch massenhaft scharfe Munition herumliegt und wir überzeugt sind, dass die IS-Terroristen Sprengfallen errichtet haben“.

Danach besuchten wir den heiß umkämpften Hügel Mishtenur, den die Kurden wochenlang verbissen gegen die anstürmenden Islamisten verteidigt hatten, der dann aber doch in die Hände der Angreifer gefallen und auf Grund seiner strategisch günstigen Lage zu einer tödlichen Bedrohung für die Verteidiger geworden war. Mit seiner Rückeroberung in der Nacht zum 19. Jänner war ein entscheidender Schritt zur Befreiung Kobanes getan.

Auch im schmucklosen Regierungsgebäude wurde ein Kapitel Kriegsgeschichte geschrieben. Als die Kämpfe ihren Höhepunkt erreicht hatten, konnten sich die Islamisten im Erdgeschoss festsetzen, der erste Stock aber wurde von kurdischen Truppen gehalten. Einen ganzen Tag lang dauerten die Auseinandersetzungen, die schließlich mit der Vertreibung der Eindringlinge endeten.

Ibrahim Kardo, der Außenminister des Kantons, den wir vor dem Gebäude trafen, war der erste, der uns diese Geschichte erzählte. Wir sollten sie aber noch öfters hören. Die wichtigsten Dienststellen befinden sich im Nordwesten, dem besterhaltenen Teil der Stadt. In einem dieser Häuser fand eine Pressekonferenz statt, in der Pläne über den Wiederaufbau Kobanes und über ein Museum, das den Widerstand gegen den IS dokumentieren soll, von den Honoratioren der Stadt präsentiert wurden.

Am nächsten Tag war eine Frontbesichtigung angesagt. Wir fuhren 30 km Richtung durch befreites Land und erreichten einen Militärposten, der am Fuße eines Hügels liegt. Oben auf dem Hügel, befindet sich ein Beobachtungsposten, von dem die Stadt Jarrablus auf der anderen Seite des Euphrats zu sehen ist, die nach wie vor vom IS besetzt ist.

„Vor knapp drei Wochen haben wir dieses Gebiet erobert“, erzählt uns Kommandant Rojger Firat, „es war stark vermint. Die Luftangriffe der alliierten Bomber hatten die Nachschublinien des IS empfindlich getroffen und seine Kampfmoral entscheidend geschwächt. Derzeit ist es an unseren Frontabschnitt ruhig. Nur ihre Scharfschützen liegen auf der Lauer“.

Nach einem Imbiss und dem obligatorischen Tee traten wir die Rückreise an.

Bei dem Ort Eschme gerieten wir in eine Geburtstagsfeier zu Ehren des inhaftierte Abdullah Öcalan. Von dem Festgelände war das neu errichtete Grabmal Süleiman Shahs, des Großvaters Osman I., des Gründers des Osmanischen Reiches zu sehen, dessen sterbliche Überreste in der Nacht zum 22. Februar 2015 von türkischen Truppen mit tatkräftiger kurdischer Unterstützung an diesen Ort überführt worden waren. In Kobane selbst besuchten wir eine weitere Geburtstagsfeier.

Am 5. April konnte ich Anwar Muslim, den Ministerpräsidenten der Kantonalregierung treffen. Der 1976 in Kobane geborene Rechtsanwalt hatte sich 2005 als Verteidiger politischer Gefangener einen Namen gemacht und wurde 2007 ins Parlament gewählt, 2011 inhaftiert und nach Beginn der Revolution wieder freigelassen. Seit 21. 4. 2014 ist er Premierminister des Kantons Kobane. Er gab mir einen Überblick über die schlimmsten Anschläge: „27 sprengstoffbeladene Fahrzeuge hatten die Dschihadisten in die Luft gejagt, mehr als 110 Mörsergranaten auf die Stadt abgefeuert. und immer wieder Selbstmordattentate verübt.“

Eine eigenwillige Antwort gab er auf die Frage eines jungen deutschen Journalisten nach seiner ideologischen Verortung:

„Rechts und links. Es hängt davon ab, was der Bevölkerung Nutzen bringt“.

Die Flüchtlinge sollten seiner Meinung nach mit der Rückkehr noch warten.

„Wir können die Leute jetzt noch nicht zurückbringen, denn es würden wegen der vielen Leichen Seuchen ausbrechen und auch das ‚tägliche Leben‘ funktioniert noch nicht. Es gibt weder Nahrung noch Medizin.“

Trotzdem sind schon hunderte Familien zurückgekehrt und auf den wenigen geräumten Straßen spielen Kinder Fußball.

Danach hatte ich noch die Möglichkeit, Brigadier Yasein den Kommandanten der 150 Mann starken Pesch Merga Truppe zu besuchen, der mit türkischer Genehmigung und mit schweren Waffen den Volksverteidungseinheiten zu Hilfe gekommen war.

„Es gibt natürlich viele Probleme, aber das Wichtigste ist, dass wir hier sind und unsere Brüder und Schwestern unterstützen können“.

Am Ende des Tages empfing mich, gleichsam als Krönung meines Aufenthaltes Mahmud Berxwedan, der Oberkommandierende der YPG (Volksverteidigungseinheiten) und Sieger von Kobane zu einem Plauderstündchen.

„Begonnen haben die Kämpfe um Kobane nicht erst am 15. 9. 2014, wie häufig zu lesen ist, sondern bereits am 21. 7. 2013. Am 15. 9. 2014 fanden aber die härtesten Auseinandersetzungen statt. Am 26. 1. hatten wir die Stadt befreit, nicht aber den Kanton. Mittlerweile haben wir den IS schon weit zurückgedrängt und viele Dörfer zurück erobert .“

Auch er erzählte über die Gefechte im Haus des Regierungsgebäudes. Die Unterstützung durch die Freie Syrische Armee (FSA) betrachtet er als einen symbolischen Akt. Anders beurteilt er die Hilfe der Pesch Merga.

„Auch wenn sie nur wenige sind, so stellen sie mit ihren schweren Waffen eine wertvolle Unterstützung dar. Besonders erfreulich ist aber die Tatsache, dass wir zum ersten Mal nicht gegeneinander, sondern miteinander, Seite an Seite kämpfen.“

Die Lufteinsätze der USA und ihrer Verbündeten hält er für gut, richtig und notwendig.

„Sie kamen aber sehr spät. 45 Tage lang standen wir mit unseren Kalaschnikows allein den Panzern des IS gegenüber. Trotzdem hatten wir ‚nur‘ 500 Gefallene zu beklagen, die Daasch dagegen etwa 5.000. Zurück lassen mussten sie bei ihrem Rückzug 1.500 Leichen“.

Tatsächlich hat der Aufstieg des Islamischen Staates neben den scheußlichen Verbrechen, die in seinem Namen bereits begangen worden sind und vermutlich noch werden, zumindest für die Kurden auch Vorteile gebracht: Masud Barsani spielt heute auf der weltpolitischen Bühne eine beachtliche Rolle, die PKK und ihre syrisch-kurdische Schwesterpartei PYD werden zunehmend auch international als ernstzunehmende Gesprächspartner angesehen und ihre Diffamierung als „terroristische Organisationen“ dürfte und müsste bald zu Ende gehen. Dazu kommt, dass zum ersten Mal Pesch Merga-Kämpfer Seite an Seite mit denen der PKK und PYD gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen. Und die erfolgreiche Verteidigung von Kobane ist für die Kurden zu einen Mythos geworden und genießt für viele Kurden bereits heute den gleichen Stellenwert (wenn auch quantitativ im Miniformat) wie die Verteidigung Stalingrads für Russen und die Verduns für Franzosen.

Die Bedeutung des kurdischen Sieges kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, wurde doch dadurch nicht nur der Kanton Kobane gerettet und ein türkischer Einmarsch verhindert, sondern auch dem IS die bisher schwerste Niederlage zugeführt. Für den IS hatte die Stadt für seinen Nachschub und seine Logistik große Bedeutung und er hatte deshalb den Kampf mit vollem Einsatz geführt. Trotzdem ist die Kampfkraft der Terrororganisation noch lange nicht gebrochen, die nach wie vor Angst und Schrecken in der nahöstlichen Region verbreitet. Sie stellt zweifellos die größte Herausforderung des von den westlichen Siegermächten des 1. Weltkrieges geschaffenen Herrschaftssystems im Nahen Osten dar und hatte eine Umreihung politischer Prioritäten bewirkt.

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Die aktuelle Entwicklung:

Am 16. Juni vertrieben kurdische Kämpfer im syrischen Teil Kurdistans den Islamischen Staat (ISIS/IS) aus der Stadt Tel Abyad. Der kurdische Sieg in Tel Abyad zerschneidet den direkten Nachschubweg des IS und setzt Raqqa, die De-facto-„Hauptstadt“ des Islamischen Staats, unter ernsthaften Druck.

Für den IS ist der Verlust von Tel Abyad „der größte Rückschlag seit der Ausrufung seines Kalifats vor einem Jahr“, sagt Rami Abdulrahman, der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte.[1]

Jeder, der eine genozidale Terrorgruppe wie den IS verabscheut, muss sich über diesen Erfolg der Kurden freuen. Die Reaktion des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hingegen fiel anders aus: Er gelobte, die Gründung eines kurdischen Staates in der Region zu verhindern. „Ich wende mich an die ganze Welt“, sagte er. „Wir werden niemals dulden, dass im Norden Syriens, an unserer südlichen Grenze, ein Staat gebildet wird.“[2]

In Wirklichkeit verlangen Syriens Kurden gar keinen unabhängigen Staat. Sie fordern eine autonome oder föderale kurdische Verwaltung. Doch selbst wenn sie eines Tages die Unabhängigkeit verlangen sollten, hätten sie jedes Recht, dies zu tun.

Wenn es einundzwanzig arabische und sechs türkische Staaten gibt, warum sollte dann nicht ein kurdischer Staat existieren?[3]

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[1] http://www.israelnationalnews.com/News/News.aspx/196821
[2] http://www.hurriyetdailynews.com/erdogan-vows-to-prevent-kurdish-state-in-northern-syria-as-iran-warns-turkey.aspx?PageID=238&NID=84630&NewsCatID=338
[3] http://de.gatestoneinstitute.org/6118/tuerkei-islamischer-kurdenstaat

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Info-DIREKT dankt Dr. Herbert Fritz für die Rechte zur Veröffentlichung der folgenden Fotos:

IMG_2659d> Um den Daasch kein Angriffsziel zu bieten: Blick mit Rückspiegel auf die Feinde.
IMG_2672 Weibliche Kämpfer in Sindschar
IMG_2679  Dr. Herbert Fritz in Sindschar
IMG_2715 Führungsmitglieder des Rates der Jesiden in Sindschar
IMG_2742 Dr. Herbert Fritz kommt erschöpft auf der syrischen Seite der Grenze an
IMG_2745 Ibrahim Kardo, Außenminister des Kantons Kobane (rechts) mit Dr. Herbert Fritz
IMG_2770 Kobane
IMG_2772 Kobane
IMG_2829 Das verlegte Grabmal Süleiman Shas, des Großvaters Osman I.
IMG_2840 Geburtstagsfeier für Abdullah Öcalan auf dem Rückweg von der Front
IMG_2883 Schwere Waffen der Pesch Merga
IMG_2884 Pesch Merga Brigadier Yasein (rechts) mit Dr. Herbert Fritz in Kobane

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Beitragsvideo: https://www.youtube.com/watch?v=UAzRWSwAuGI (Standard YouTube License)

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