Sommerfeld: Für Leistungsprinzip und kritische Geister braucht es keine Noten

In reformpädagogischen Schulen gibt es bewusst keine Schulnoten. Montessorischulen und Waldorfschulen, um nur zwei bekannte Typen herauszugreifen, verzichten seit ihrer Gründung in den 1920er Jahren auf Zensuren. Der Grund dafür ist nicht, wie immer wieder – auch von Eltern ebendieser freien Schulen – erzählt wird, dass die Kinder sich deshalb ohne Druck und ganz frei entfalten können.

von Caroline Sommerfeld

Eine soziale Institution, wie auch jede Schule eine ist, übt immer reglementierenden Druck auf die ihr anvertrauten Individuen aus. Alle Kinder schreiben Buchstaben, einige Kinder kritzeln unbeholfen, die anderen Kinder können nicht nicht reagieren. Alle Kinder geben ihre Projektmappe ab, bei einem fehlt etwas vorne und hinten und die Lehrerin reagiert, selbst wenn sie sich als unterstützende „Lernbegleiterin“ versteht, negativ. Selbst wenn sie gelernt hat, sich pädagogisch gut auszudrücken und keine Negativwertungen zu verwenden – ihr verbaler Eiertanz erreicht, was er erreichen muss: das Kind weiß ganz genau, dass seine Arbeit misslungen ist.

„Kommentierte Leistungsbeurteilungen“

Schulnoten sind in den 2000 Schulversuchen österreichweit durch sogenannte „Kommentierte Leistungsbeurteilungen“, also Eltern-Lehrer-Kind-Gespräche, oder schriftliche verbale Beurteilungen durch den Lehrer ersetzt worden. Diese Beurteilungsformen folgen ihrerseits genau formulierten Schemata, sind also nichts anderes als notenparaphrasierende Wortschwälle, nur schlechter verständlich. Oder – besonders in den genannten Gesprächssituationen – es wird munter drauflospsychologisiert. Da kann ein Volksschulkind schon mal von der Lehrerin zu hören bekommen, dass es keine Freunde hat, weil es sich so unsozial verhält und dann aufgefordert werden, gleich selber Vorschläge zu machen, sein Leben zu ändern. Da lobt man sich einen gesunden Dreier in Mathematik.

Wenn Alternativschulen keine Noten vergeben, kommen sie ohne formalisierte Verbalparaphrasen und ohne Therapiegespräche aus. Die Leistung zeigt sich durch den sozialen Druck der anderen, durch den ständigen Vergleich, den Kinder zwischen sich und den Mitschülern ziehen. Durch Aufführungen, Ausstellungen und Referate, neudeutsch „Präsentationen“, sehen alle, was wer kann und nicht kann.

Altersgerechte Dinge lernen

Und die Beurteilbarkeit der Kinder am Ende des Schuljahrs? Entfällt, weil diese Leistungen kein Versetzungskriterium sind. Es ist nämlich, dies sei hier kurz aus waldorfpädagogischer Perspektive erklärt, viel wichtiger, dass Kinder absolut altersgemäße und altersgerechte Dinge lernen. Der Neunjährige ist reif für den Vergleich der lateinischen Schrift, die er nun bereits gut beherrscht, mit anderen Schriften, und lernt deshalb das Runenalphabet und die Kurrentschrift. Da gibt es dann Kinder, die davon völlig überfordert sind, die schreiben halbwegs kalligraphisch von der Tafel ab und merken sich nichts – auch gut, ihre Hand wurde geschult. Da gibt es dann auch Kinder, die sich diese Schriften als kulturelles Erbe für immer merken und noch als Erwachsene spielend in die Kurrent wechseln. Neun Jahre alt sind sie alle gewesen, und genau in diesem Zeitfenster prägt sich diese Erfahrung am besten ein.

Der Vorwurf, dass Kinder ohne Noten „nichts lernen“ und sich faul in die nächsthöhere Klasse durchschleppen lassen, um am Ende ihrer Schulzeit dumm dazustehen, lässt sich also entkräften. Der Leistungsvergleich braucht überhaupt keine Noten, sondern nur soziale Kontrolle. Die ist in einer Klasse immer gegeben. Schwierig wird dieser Aspekt eher beim Heimunterricht, wo es unter den Kindern, außer bei vielen Geschwistern, eben keinen äußeren Ansporn gibt. Rein innengeleitet sind die wenigsten Kinder.

Leistungsträger oder Kritiker?

Ein letzter Gedanke: Was braucht es gesellschaftlich eher – Leistungsträger innerhalb des Systems oder junge Leute, die dem System kritisch gegenüberstehen? Man kann nicht simpel „Schulnotensystem“ = normopathische Anpasser, und „Alternativschule“ = kritische Geister setzen. Es könnte allerdings sein, dass in einer Schule ohne Noten zwar Leistung, aber weniger Anpasserei gedeihen. Denn es geht nicht um den versetzungsrelevanten Zweier, sondern darum, was beim Kind hängenbleibt von einem erarbeiteten Stoff. Und das kann auch mal allzu wenig sein – nur, was unterscheidet die missliche Lage jenes Alternativschulkindes dann von der eines schlechten Hauptschülers? Letzterer dürfte nachhaltig frustriert sein, weil sein Selbstbild an Schulnoten hängt. In der Note wird die soziale Kontrolle externalisiert, man kann damit wie einem äußeren Gegenstand umgehen, aber sie steigert die Anpassung. Die notenfreie Schule macht die soziale Kontrolle zu einem lebbaren Instrument der Gegenseitigkeit.


Dieser Beitrag ist Teil eines Schlagabtauschs über Noten in den Schulen. Die Gegenposition von Jan Ackermeier finden Sie >> hier. <<

Weitere Artikel …

1 Kommentar

  1. Das Bildungsziel wird mit dem derzeitigen System nicht mehr erreicht. Und für mich ist das Ziel in erster Linie die Fähigkeiten zu erlangen um damit den eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Sie können das jetzt gerne als „Leistungsträger des Systems“ abwerten. Meiner Meinung nach haben wir leider viel zu viele Menschen in unserem Land, die als Leistungsträger ungeeignet sind. Und da komme ich auf den Punkt. Warum haben sich die minimalsten Schreib- und Rechengrundkenntnisse vieler Schulabgänger in den letzten beiden Jahrzehnten dermaßen verschlechtert, dass diese Leute für einen Lehrberuf ungeeignet sind? Unterhalten sie sich mit ein paar Lehrherren dazu.

Kommentare sind deaktiviert.